Artikel: Hüseyin Özdemir / Rafael Sarim Özdemir

„Without memory or desire“ – eine Haltung radikaler Präsenz in Führung, Coaching und Beratung
Dieser Satz stammt ursprünglich von Wilfred Bion, einem bedeutenden Psychoanalytiker und Gruppendynamiker. Er beschreibt damit eine innere Haltung, die Therapeutinnen, Coachinnen oder Berater*innen idealerweise einnehmen sollen, wenn sie einem Menschen oder einem System begegnen.

Was meint „without memory or desire“ konkret?

Without memory
„Ohne Erinnerung“ heißt nicht, dass wir vergessen oder vergangenes Wissen ausblenden sollen. Es bedeutet vielmehr, nicht am Vergangenen zu haften. In der Beratung heißt das: nicht mit einem vorgefertigten Erklärungsmodell, nicht mit der Geschichte der letzten Sitzung, nicht mit einer Schablone oder einem bevorzugten Ansatz in die Begegnung zu gehen.
Diese Haltung schützt uns davor, das Jetzt mit dem Gestern zu überlagern. Es geht um ein Loslassen von Hypothesen – nicht um ihre Negierung, sondern um ihre Durchlässigkeit. Erst so entsteht Raum für neue Perspektiven und unvorhersehbare Entwicklungen.
Für Führung heißt das: nicht aus Gewohnheit handeln, nicht aufgrund alter Erfahrungen vorschnell Schlüsse ziehen. Es braucht die Fähigkeit, das Team, die Situation, dendie Gesprächspartnerin immer wieder neu zu sehen.

Without desire
„Ohne Wunsch“ meint nicht das Fehlen von Engagement. Es geht um das Aufgeben von versteckten Agenden und einem „Ich will, dass du…“-Denken. Für Coach*innen heißt das: nicht einen bestimmten Erkenntnispunkt erzwingen, keine gewünschte Veränderung antizipieren oder gar manipulativ steuern.
Für Führungskräfte bedeutet es: Mitarbeitende in ihrem eigenen Entwicklungstempo ernst zu nehmen – nicht sie zu beschleunigen, um eigene Ziele zu erreichen.
Gerade das Loslassen der eigenen Bedürfnisse nach Wirksamkeit, Kontrolle oder einem bestimmten Ergebnis ist eine enorme Disziplin. Und zugleich der Schlüssel für Vertrauen.

Die Haltung als innere Praxis

Diese Haltung ist keine Technik – sie ist eine Praxis.
Sie ist eine Einladung zur radikalen Präsenz. Sie sagt:

„Ich bin hier, um wahrzunehmen – nicht, um zu kontrollieren.
Ich bin offen für das, was sich zeigt – nicht nur für das, was ich sehen will.“

Diese Präsenz braucht Mut: die Leere zuzulassen, das Nichtwissen zu ertragen, die eigene Hilflosigkeit in manchen Momenten auszuhalten. Und sie braucht eine kultivierte Wahrnehmung – eine Schulung im Nicht-Tun, ohne passiv zu sein.

Nutzen für Führung, Coaching und Beratung

In einer Zeit, die von Beschleunigung, Zielorientierung und Performance geprägt ist, wirkt diese Haltung fast subversiv. Und gerade deshalb ist sie so wertvoll:

  • Für Coach*innen ermöglicht sie echte Resonanz. Derdie Coachee wird nicht Objekt einer Methode, sondern bleibt Subjekt seinesihrer eigenen Weges.
  • Für Führungskräfte eröffnet sie neue Möglichkeiten der Selbststeuerung. Wer sich nicht sofort von alten Mustern oder Zielen treiben lässt, kann Situationen bewusster gestalten und klüger reagieren.
  • Für Berater*innen schafft sie einen Raum für Emergenz: Die Lösung ist nicht schon mitgebracht, sondern entsteht im Kontakt mit dem System – aus dem System heraus.

Diese Haltung ist auch ein Schutz: Sie bewahrt uns davor, in Projektionen zu verfallen, blinde Flecken zu übersehen oder in Aktionismus zu rutschen.

Group Relations und die Erfahrung im oezpa-orgLAB

In unserer Group-Relations-Arbeit (siehe oezpa-orgLAB) begegnet uns diese Dynamik immer wieder. Kaum sind wir als Faculty zu einer Arbeitskonferenz eingeladen – oder laden selbst Faculty ein – beginnt das „Erinnern“ und „Wünschen“:

  • Erinnern: „Wie war es im letzten Jahr?“
  • Wünschen: „Wie soll es diesmal werden? Wer soll kommen? Was wollen wir erreichen?“

Und doch liegt die Kraft genau darin, diesen inneren Impulsen zu begegnen, ohne ihnen die Führung zu überlassen. Die Arbeit mit Systemen – ob Gruppen, Organisationen oder Einzelpersonen – entfaltet sich nicht linear. Sie verlangt ein beständiges Zurücktreten, ein Wachsein für das, was geschieht, und ein inneres Einverstanden-Sein mit dem, was gerade (noch) nicht geschieht.

„Without memory or desire“ ist keine romantische Idee. Es ist ein radikaler Vorschlag für die Haltung im professionellen Kontext.
In einer Zeit der Transformation, des Wandels und der Unsicherheit kann sie zur tragenden inneren Ressource werden – für Menschen in Führungsrollen, für Coachinnen, für Organisationsentwicklerinnen.

Denn: Nur wer unvoreingenommen und offen in die Begegnung geht, wird wirklich empfänglich für das, was gerade entstehen will.

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