Kennen Sie das? Wenn das Top Management die Wahrheit nicht hören will oder kann

Der Raum ist still, als die erste Folie mit Rückmeldungen aus Interviews erscheint. Stimmen von Führungskräften und Mitarbeitenden – klar, kritisch, manchmal unbequem. Dann hebt der Vorstandsvorsitzende die Hand: „Schalten Sie bitte den Beamer aus.“

Ironischerweise ist das die Vorbereitung auf eine Managementkonferenz mit dem Titel „Transparenz und Vertrauen“.

Diese Szene ist kein Einzelfall. Sie steht stellvertretend für viele Organisationsdiagnosen im Rahmen von Change-Management-Prozessen: Das Management beauftragt eine Analyse, betont zu Beginn Offenheit und Mut zur Veränderung – doch sobald kritische Rückmeldungen auf den Tisch kommen, kippt die Stimmung. Kaum haben die Berater*innen für Organisationsentwicklung den Raum verlassen, heißt es schonmal im vertrauten Kreis: „Alles halb so schlimm, das geht vorbei.“

Warum Organisationen mit Wahrheit kämpfen

Aus Sicht der Organisationspsychologie ist dieses Verhalten gut erklärbar. Edgar H. Schein beschreibt in seiner Theorie der Organisationskultur, dass jede Organisation Mechanismen entwickelt, um Stabilität und Identität zu sichern. Kritik oder Veränderungsimpulse wirken auf das System wie eine Bedrohung.

Auch Chris Argyris und Donald Schön sprechen in diesem Zusammenhang von „Abwehrroutinen“: Organisationen reden über Lernen, Offenheit und Feedbackkultur – doch wenn Kritik tatsächlich geäußert wird, aktiviert das System unbewusste Abwehrmuster. Man schützt den Status quo, um das Selbstbild zu bewahren.

Wilfred Bion, einer der Begründer der Gruppendynamik, würde sagen: Das System fällt in ein „basic assumption“-Verhalten zurück – es verteidigt sich gegen Angst, statt sie zu reflektieren. Damit wird echter Wandel verhindert.

Transformation bedeutet, unbequeme Wahrheiten auszuhalten

Echte Transformation entsteht nicht durch neue Strukturen oder Prozesse, sondern durch den Mut, sich den realen Stimmen in der Organisation zu stellen. Feedbackkultur bedeutet, dass Führungskräfte bereit sind, zuzuhören – auch dann, wenn es weh tut.

Unsere Erfahrung aus über dreißig Jahren Arbeit in Change Management, Organisationsdiagnose und Führungskräfteentwicklung zeigt:

Vor jeder Rückmeldung braucht es ein vertrauliches, gut vorbereitetes Gespräch mit dem obersten Auftraggeber.

Dabei sollte geklärt werden:

– Welche Tiefe der Analyse ist gewünscht – und welche nicht?

– Wie detailliert sollen die Ergebnisse präsentiert werden?

– Welche Intensität des Feedbacks ist für das System „verdaubar“?

Auch Organisationen haben eine Art Nervensystem. Zu starke Konfrontation kann überfordern – zu wenig Spannung bleibt wirkungslos. Professionelle Organisationsentwicklung braucht deshalb dosierte Irritation: genug, um Veränderung auszulösen, aber nicht so viel, dass das System blockiert.

Psychologische Sicherheit als Basis jeder Transformation

Überraschende Konfrontationen im Plenum – ohne vorherige Absprache – führen oft zu Abwehr, Machtkämpfen oder sogar zum Abbruch eines Projekts. Gute Kontakte zu Personalentwicklung oder Organisationsabteilungen helfen in der Vorbereitung, doch entscheidend bleibt das persönliche Vertrauensverhältnis zum Top Management.

Transformation beginnt nicht mit PowerPoint, sondern mit psychologischer Sicherheit.

Nur wenn Führung bereit ist, die Wahrheit zu hören, können Organisationen lernen, wachsen und sich nachhaltig verändern.



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