Im Gespräch mit dem Management Magazin „oezpa-Impulse“

oezpa-Impulse: Herzlich willkommen, lieber Herr Dr. Özdemir. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns über Ihre Erfahrungen als systemischer Coach zu sprechen. Ihr Coaching Ansatz scheint ja tief in der Betrachtung von Vernetzungen und Mustern verwurzelt zu sein. Können Sie uns aus einen Einblick geben, wie Sie zu dieser Sichtweise gekommen sind?

Reise in die Welt des systemischen Coachings

Özdemir: Sehr gerne. Meine Reise in die Welt des systemischen Coachings begann vor mehr als 30 Jahren. Meine zunehmende Erkenntnis war, dass viele Herausforderungen im beruflichen Kontext nicht isoliert betrachtet werden können. Organisationen und Individuen sind eingebettet in komplexe Beziehungsgeflechte und Systeme. Die moderne Systemtheorie hat mir hier eine völlig neue Brille aufgesetzt, um diese Dynamiken zu verstehen – die oft unbewussten Wechselwirkungen, die Verhalten und Ergebnisse maßgeblich beeinflussen. Parallel dazu war für mich immer klar, dass ein solides psychologisches Fundament unerlässlich ist, um wirklich wirkungsvolle Veränderungsprozesse zu begleiten. Deshalb bildet die Verknüpfung dieser beiden Bereiche für mich das Herzstück meiner Arbeit.

oezpa-Impulse: Das klingt nach einem sehr fundierten Ansatz. Können Sie uns anhand eines konkreten Beispiels aus Ihrer Praxis schildern, wie dieses systemische Denken in einem Coaching-Prozess konkret aussieht?

Özdemir: Nehmen wir an, ein Manager kommt zu mir, weil er Schwierigkeiten hat, sein Team zu motivieren. Ein rein individualpsychologischer Ansatz würde sich vielleicht auf seine Führungsqualitäten oder die individuellen Bedürfnisse der Teammitglieder konzentrieren. Im systemischen Coaching hingegen betrachten wir das Problem breiter: Welche Dynamiken herrschen im Team? Welche unausgesprochenen Regeln gibt es? Wie interagiert das Team mit anderen Abteilungen? Welche Rolle spielt die Unternehmenskultur als Ganzes? Durch systemische Fragen und Interventionen versuchen wir, diese tieferliegenden Muster sichtbar zu machen. Darüberhinaus versuchen wir, gemeinsam mit dem Klienten neue Perspektiven und Lösungsansätze zu entwickeln, die das gesamte System berücksichtigen.

Haltung des Coaches bzw. der Coachin

oezpa-Impulse: Sie haben die Bedeutung der Haltung des Coaches angesprochen. Was verstehen Sie konkret unter einer „systemischen Haltung“ und wie kultivieren Sie diese in Ihrer täglichen Arbeit?

Özdemir: Eine systemische Haltung ist für mich geprägt von tiefer Wertschätzung für die Autonomie des Klienten und dem Glauben an seine Ressourcen. Es bedeutet, neugierig zu sein, offen für unterschiedliche Perspektiven und die Komplexität der Systeme, mit denen wir arbeiten. Es geht deshalb, nicht vorschnell zu urteilen oder Lösungen vorzugeben, sondern den Klienten dabei zu unterstützen, seine eigenen Antworten zu finden. Die Übernahme dieser Haltung ist ein ständiger Prozess der Selbstreflexion. Ich überprüfe meine eigenen Annahmen, meine blinden Flecken und meine Reaktionen in den Coaching Sitzungen, um so eine möglichst neutrale und unterstützende Präsenz zu entwickeln.

oezpa-Impulse: Die Kunst des Fragens scheint im systemischen Coaching eine zentrale Rolle zu spielen. Welche Arten von Fragen setzen Sie besonders häufig ein und welche Wirkung beobachten Sie dabei?

Özdemir: Systemische Fragen sind tatsächlich ein Kerninstrument. Ich nutze oft offene Fragen, um den Denkraum des Klienten zu erweitern, zirkuläre Fragen, um die Perspektiven verschiedener Systemmitglieder zu beleuchten, und hypothetische Fragen, um neue Möglichkeiten zu imaginieren. Wunderfragen können helfen, eine klare Vision des erwünschten Zustands zu entwickeln. Der Effekt dieser Fragen ist oft erstaunlich: Sie regen zur Selbstreflexion an, machen unbewusste Dynamiken sichtbar und ermöglichen es dem Klienten, neue Lösungswege zu entdecken, an die er zuvor vielleicht nicht gedacht hätte. Es geht darum, den Klienten zum aktiven Gestalter seiner eigenen Lösungen zu machen.

oezpa-Impulse: Abschließend, welche Botschaft möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben, wenn es um die Essenz und die praktische Anwendung des systemischen Coachings geht?

Systemisches Coaching ist mehr als nur eine Methodik

Özdemir: Systemisches Coaching ist für mich mehr als nur eine Methodik – es ist eine tiefgreifende Art des Denkens und der Interaktion, die uns hilft, die Komplexität menschlicher Systeme zu verstehen und konstruktiv zu gestalten. Konkret erfordert es eine kontinuierliche Bereitschaft zur Selbstreflexion, eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Klienten und die Fähigkeit, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Wenn wir uns auf diese Reise einlassen, eröffnen sich kraftvolle Wege zur persönlichen und organisationalen Entwicklung. Es ist ein dynamischer Prozess, der Mut zur Veränderung und Vertrauen in die eigenen Ressourcen erfordert – sowohl auf Seiten des Coaches als auch des Klienten.

oezpa-Impulse: Wir danken Ihnen für Ihre Zeit.

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